+++ Auch wir, die SPD Niederdorfelden, schließen uns nach einem einstimmigen Vorstandsbeschluss dem offenen Brief der SPD Wächtersbach an Andrea Nahles und den Parteivorstand an. +++
Liebe Genossinnen und Genossen im Parteivorstand,
Liebe Andrea Nahles,
du hattest in der vergangenen Woche in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung über dich und das Amt der Parteivorsitzenden gesagt, „wenn jemand meint, es schneller oder besser zu können, soll er sich melden.“ Wir schreiben dir und euch in dem Wissen, dass du, Andrea, damit nicht etwa ernsthaft zu Gegenkandidaturen aufgerufen hast, sondern eher darauf hoffst die verbliebenen Unterstützer des derzeitigen Kurses hinter dir zu versammeln. Deshalb halten wir es für besonders wichtig, dir und euch zu signalisieren, dass wir nicht zu diesen gehören.
Auch wir wissen, dass die Probleme der SPD weit über personelle Fragen hinaus gehen und vor allem inhaltlicher, struktureller und kommunikativer Natur sind. Es ist erschreckend, wenn bis zu zwei Drittel der Bevölkerung laut diversen Umfragen nicht wissen, wofür unsere Partei eigentlich steht. Deshalb begrüßen wir es einerseits, dass ihr bei eurer Klausurtagung am vergangenen Wochenende eine Beschleunigung des inhaltlichen Erneuerungsprozesses angekündigt habt. Wir brauchen endlich eine klare Haltung in vielen Fragen, etwa zu sozialstaatlichen Themen, zu Migration und Integration oder zur Frage, wie wir Ökonomie und Ökologie in Einklang bringen wollen.
Der gleichzeitig vom Präsidium beschlossene Fahrplan für die Regierungsarbeit der nächsten Monate ist hingegen dürftig. Der Fahrplan geht nicht nur nicht über die Vereinbarungen des Koalitionsvertrags hinaus, mit dem Gute-Kita- und dem Qualifizierungschancengesetz beinhaltet er auch Gesetzesvorhaben, die bereits in erster Lesung im Bundestag waren und somit ohnehin bald umgesetzt werden. Der Fahrplan ist damit eigentlich nichts anderes als der x-te „Aufruf zur Sacharbeit“, wie er in den letzten Monaten allzu oft und ohne jegliche positive Auswirkung auf die Zusammenarbeit in der Koalition ausgesprochen wurde. Das soll die Konsequenz aus den historischen Verlusten bei den Landtagswahlen und dem Absinken in Umfragen auf 13 oder 14 Prozent sein?
Die Tagespolitik hat den Koalitionsvertrag doch schon längst eingeholt. Vor allem der Streit um Verfassungsschutzchef Maaßen und der Dieselkonflikt haben die großen Parteien massiv beschädigt. Gerade letzteres bekamen wir und unsere Direktkandidaten im abgelaufenen Hessenwahlkampf mehrfach zu hören. Nicht etwa, weil die Mehrheit der Menschen einen Diesel fährt oder konkret von möglichen Fahrverboten betroffen wäre. Der Diesel steht viel eher stellvertretend für die Frage, für wen eigentlich noch Politik gemacht wird: für die betrogenen Verbraucher oder die Konzerne?
Gerade bei solchen Themen bräuchte es eine starke Sozialdemokratie mit klarer Haltung, die den Konflikt in der Sache mit dem Koalitionspartner nicht scheut. Das verlorengegangene Vertrauen der Wählerinnen und Wähler werden wir jedenfalls alleine mit Maßnahmen wie monatlich 20€ mehr Kindergeld nicht zurückgewinnen.
Darüber hinaus setzt diese Klausurtagung allen Beteuerungen der Besserung zum Trotz ein fatales Signal. Der Aufruf zur Geschlossenheit ist verständlich. In dieser Konsequenz jedoch mögliche Personaldebatten, die Diskussionen über ein Ende der großen Koalition und über das Vorziehen des ordentlichen Parteitags einfach zu ignorieren oder schnell abzubügeln geht völlig an der Stimmungslage der Basis vorbei.
Im Wahlkampf haben wir und die Genossinnen und Genossen aus den umliegenden Ortsvereinen oft gehört, dass die Bürgerinnen und Bürger unsere Themensetzung in Hessen eigentlich richtig fänden. Wählen würden sie uns trotzdem nicht, wegen „der großen Koalition und eurer Bundesvorsitzenden“. Gerade in der letzten Woche vor der Wahl haben unsere Kandidaten und Wahlkämpfer bei Haustürterminen und an Wahlständen unzählige Varianten des Spruchs „Ab morgen gibt‘s eins in die Fresse“ entgegengerufen bekommen.
Dieses Stimmungsbild mag sowohl der Arbeit der Koalition als auch dir gegenüber, Andrea, etwas überzogen sein. Es verdeutlicht jedoch das personelle Problem, dass wir nun mal auch haben.
Eigentlich bräuchte es in Zeiten wie diesen dringend eine starke, selbstbewusste und der Zukunft zugewandte Sozialdemokratie. Weil globale Unternehmen in Europa kaum Steuern zahlen oder durch Dividendenstripping (Cum Ex/Cum Cum) in Milliardenumfang bei der Erstattung der Kapitalertragssteuer betrügen. Weil sich die Arbeitswelt massiv wandelt und die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme ungewisser erscheint denn je. Weil die Bildungschancen von Kindern immer noch stark von Einkommen und Herkunft der Eltern abhängen. Weil bezahlbarer Wohnraum in den Städten Mangelware ist während viele Gemeinden im ländlichen Raum aussterben. Weil die Polarisierung in unserer Gesellschaft zunimmt und das „große Ganze“, das uns eigentlich verbinden sollte, verloren zu gehen scheint.
Unsere historisch schlechten Umfragewerte sind ein Ausweis dafür, dass wir für diese Probleme (und viele andere) keine befriedigenden Antworten zu liefern haben und/oder es in unserer Art zu kommunizieren und mit unserem bestehenden Spitzenpersonal nicht geschafft haben, diese glaubwürdig genug zu vertreten. Um das Schicksal vieler unserer europäischen Schwesterparteien zu verhindern, brauchen wir einen wirklichen inhaltlichen und personellen Neuanfang – und zwar so schnell wie möglich. Wer glaubt, wir hätten bis zum regulären Parteitagstermin im Dezember 2019, zwischen dem die Europa-, vier Landtags- und neun Kommunalwahlen stehen Zeit, der irrt gewaltig.
Wir bitten euch daher darum in den kommenden Wochen mithilfe des geplanten Debattencamps und dem Input aus den Landesverbänden, Unterbezirken und Ortsvereinen die Grundlagen für ein neues Parteiprogramm zu legen. Dieses sollte dann auf einem vorgezogenen ordentlichen Parteitag im kommenden Frühjahr überarbeitet und beschlossen sowie anschließend durch einem neuen Bundesvorstand vertreten werden, dessen Mitglieder in den letzten 20 Jahren nicht bereits so gut wie jede wichtige Rolle in Partei und Regierung innehatten.
Mach den Weg frei für eine neue, unverbrauchte Generation von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die nicht mit dem in Teilen bestehenden Widerspruch von Parteiprogrammatik und Regierungshandeln zu kämpfen haben – im Interesse unserer Partei und der Werte und Ideale, für die wir alle immer noch gemeinsam einstehen.
Trotz allem mit solidarischem Gruß,
der Vorstand der SPD Wächtersbach
der Vorstand der SPD Niederdorfelden